Die Verarbeitung von Nahtzugaben:
Du hast sicher schon meinen Artikel über Nahtzugaben gelesen. Darin ging es darum, wie breit Nahtzugaben sein sollten und wie du diese am besten an den Schnitt anzeichnest, damit du es später beim Nähen einfacher hast.
Hier geht es nun darum, wie die Nahtzugaben beim Nähen am besten verarbeiten werden, damit dein Nähergebnis auch von innen „wie gekauft“ aussieht.
Du wirst deshalb in diesem Artikel ganz viel darüber erfahren, wie die Verarbeitung von Nahtzugaben in der Industrie gehandhabt wird.
Dieses Wissen kannst du dir dann auch beim „privaten“ Nähen zu Nutze machen.
In Nähanleitungen und auch bei Fertigschnitten gibt es leider oft nur recht ungenaue Informationen darüber, was genau mit den Nahtzugaben beim und nach dem Nähen passieren sollte.
Bevor ich diesen Artikel geschrieben habe, war ich eigentlich der Meinung, das wird eine kurze Sache, ich schreibe alles schnell auf, mache ein paar Fotos und fertig.
Aber beim Schreiben habe ich gemerkt, dass alles über die Verarbeitung von Nahtzugaben, was für mich so selbstverständlich ist, doch viel umfassender ist, als ich erst dachte. Kein Wunder, dass in den meisten Nähanleitungen dieses Thema nicht erwähnt wird.
Die Überschriften und Unterteilungen sollen Dir helfen, die Systematik, die in der Industrie bezüglich Nahtzugaben herrscht, auch für deine Nähprojekte zu nutzen.
Weshalb werden Nahtzugaben benötigt?
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Eigentlich sind die Nahtzugaben dazu da, um Schnitteile miteinander zu verbinden oder Säume sauber zu verarbeiten.
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Nahtzugaben sichern die Passform von Modellen,
da sie zusätzlich an den Schnitt angestellt werden. Beim Nähen bleibt auf diese Weise die Form des ursprünglichen Schnittteiles erhalten. Ohne Nahtzugabe würde das Modell zu klein werden und die Nahtlängen würden auch nicht mehr zusammenpassen.
Stell dir vor, du würdest eine Hose nähen und hättest dafür keine Saum-Nahtzugabe angestellt. Wenn du dann trotzdem 2 bis 3 cm unten umnähst, dann würde deine Hose natürlich zu kurz. Genauso wäre es mit der Weite deiner Hose. Ohne Nahtzugabe wäre sie dir dann nach dem Nähen zu eng.
Bitte mache nie den Fehler, einen Schnitt einfach eine Größe größer zuzuschneiden und deshalb keine Nahtzugabe anzufügen. Eine größere Größe bedeutet nicht, dass der Schnitt rundum gleichmäßig größer geworden ist.
Deshalb zeige ich dir hier ein Beispiel: Die Schulterbreite verändert sich pro Größe nur um ein paar mm während Brustumfang, Taillenumfang und Hüftumfang pro Größe mindestens 4 bis 6 cm wachsen. Du siehst also, das Modell könnte gar nicht mehr passen, wenn die Nahtzugaben nicht zusätzlich zugegeben würden.
Hier siehst du einen Shirt-Schnitt, bei dem ich gerade dabei bin, mehrere Größen einzuzeichnen. Der Fachbegriff dafür heißt: gradieren. Viele Größen auf einmal, wie hier, nennt man: Nest.
Du kannst hier sehr gut erkennen, dass sich der Schnitt nicht einfach nur rundum parallel vergrößert, sondern dass manche Maße sich kaum verändern.
Welchen Nutzen Nahtzugaben haben:
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Die Verarbeitung der Nahtzugaben kann das Design eines Modells unterstützen:
besonders dann, wenn die Nähte abgesteppt sind. Am Beispiel von Jeanshosen kannst du das sehr gut sehen. Manche Nähte werden dort wirklich nur für die tolle Optik eingefügt.
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Nahtzugaben können zur Änderungsfreundlichkeit von Modellen dienen.
So kann z.B. die Taille oder Hüfte erweitert werden, wenn an den Seitennähten eine breitere Nahtzugabe angestellt wurde.
Hier siehst du 2 verschiedene Bünde. Am grauen Rock kann die Seitennaht schnell aufgetrennt werden und Weite herausgelassen oder vermindert werden. Beim weißen Rock ist das wegen der fehlenden Bundteilungsnaht nicht so einfach möglich.
Ärmel können verlängert werden, wenn die Säum breit genug sind.
An Hosen wird gerne in der hinteren Mitte eine breitere Nahtzugabe gemacht, damit der Bund erweitert werden kann, wenn er zu eng ist.
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Nahtzugaben können zur Nahtsicherheit beitragen, damit auch stark beanspruchte, Form gebende Nähte nicht ausreißen.
Was in der Industrie grundsätzlich zur Verarbeitung von Nahtzugaben gilt und deshalb auch für dich wichtig ist:
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Der Aufwand für das Versäubern von Nahtzugaben soll so gering wie möglich, aber so aufwändig wie nötig sein.
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Auch wenn Nahtzugaben versteckt, innen im Modell liegen, kann eine falsche oder unsaubere Verarbeitung von außen unschön zu sehen sein.
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In der Industrie gibt es Regeln, die normalerweise gelten
Du wirst jedoch immer wieder Ausnahmen finden, gerade in der Mode werden Regeln gerne total auf den Kopf gestellt.
Ein gutes Beispiel dafür sind Nahtzugaben, die von außen offenkantig verarbeitet oder ausgefranst sind.
Diese Ausnahmen haben immer einen bestimmten Grund.
Und wenn es einen Grund gibt, davon abzuweichen, dann ist das natürlich jederzeit ok.
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Wenn du neu mit dem Nähen beginnst, oder vielleicht bisher gar nicht genau wusstest, wie du die Nahtzugaben verarbeiten solltest, dann halte dich erstmal an die Regeln.
Jetzt aber endlich zur Praxis:
Die Regeln zur Verarbeitung von Nahtzugaben:
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Nahtzugaben, die breiter als 1 cm sind:
Sie werden bereits vor dem Schließen der Naht umstochen und nach dem Nähen auseinander gebügelt, das ist z.B. bei Seitennähten oft der Fall. Auch in der hinteren Mitte von Röcken und Kleidern, besonders dann, wenn ein Reißverschluss eingearbeitet wird.
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Nahtzugaben, die 1 cm breit sind:
Hier gibt es 2 Möglichkeiten:
1. Die Nahtzugaben werden vor dem Schließen der Naht einzeln umstochen
und später auseinander gebügelt. Das macht man bei eleganteren und klassischeren Modellen wie Blazern, Kleidern, Anzügen usw.
So sieht die umstochene Naht vor dem Schließen aus, umstochen wird auf der rechten Warenseite
2. Die Nahtzugaben werden nach dem Schließen der Naht gemeinsam umstochen
und auf eine Seite gebügelt. Das wird bei allen sportiveren Modellen, aber auch Blusen, Hemden, Jeans, Kinderkleidung, Taschen u. a. gemacht.
Oft werden diese Nähte zusätzlich noch abgesteppt.
Beim Absteppen muss die rechten Warenseite des Modells oben liegen.
Die Nahtzugaben werden beim Absteppen immer mitgefasst.
Niemals wird die Naht auf der Seite abgesteppt, auf der keine Nahtzugaben liegen.
Wohin sollen Nahtzugaben gelegt werden, wenn sie zusammen umstochen sind?
Da die Nahtzugaben in diesem Fall nicht auseinandergebügelt werden können, müssen sie auf eine bestimmte Seite gebügelt oder gelegt werden.
Auch hier gibt es in der Industrie ein paar Grundregeln:
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Nahtzugaben von Schulternähten werden ins Rückenteil gebügelt
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Nahtzugaben von Seitennähten an Blusen, Hemden, Jacken, Kleidern, Hosen, Röcken usw. werden ins Rückenteil gebügelt.
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Nahtzugaben von Ärmelnähten werden nach hinten gebügelt.
Damit du das besser erkennen kannst habe ich die Bluse zur Hälfte auf links gedreht. Du siehst die Seitennaht, die zum Rückenteil liegt und fortlaufend die Ärmelnaht, die genauso nach hinten zeigt.
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Nahtzugaben an Ärmeleinsatznähten (wenn du den Ärmel eingenäht hast):
sie werden zusammen umstochen und wenn nichts abgesteppt wird in den Ärmel gelegt.
Werden die Einsatznähte jedoch abgesteppt, so steppt man immer auf Vorder- und Rückenteil. Nie auf dem Ärmel. Dann werden die Nahtzugaben natürlich auch in Vorder- und Rückenteil gelegt und mit festgesteppt.
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Nahtzugaben von allen weiteren Teilungsnähten werden in das Schnittteil gebügelt, auf dem abgesteppt werden soll.
Das ist die Teilungsnaht eines Kleides. Ich habe auf dem roten Leinenstoff abgesteppt, von außen ist die Steppnaht kaum zu sehen, aber von innen ist an der roten Naht gut zu erkennen, wie die Nahtzugabe mitgefasst ist.
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Nahtzugaben von der Naht an der Hinteren Mitte
werden bei Damen so gelegt, dass sie beim angezogenen Modell zum linken Arm zeigen.
Bei den Herren zeigen Sie genau entgegengesetzt, also zum rechten Arm.
Bei dieser Jacke ist die Nahtzugabe an der hinteren Mitte mit Schrägband eingefasst. Sie zeigt zum linken Ärmel also: eine Damenjacke.
Welche Regeln zu Nahtzugaben gibt es sonst noch?
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Nahtzugaben-Verarbeitung an verstürzten Teilen wie Kragen, Manschetten, Patten usw.
Hier solltest du immer mit einer 1 cm breiten Nahtzugabe arbeiten, schaue Dir dazu auch meinen Artikel über das Verstürzen an.
Da nach dem Verstürzen die Nahtzugaben oft noch verschnitten werden und meist die Kanten noch abgesteppt werden, muss hier nichts umstochen werden.
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Nahtzugaben-Verarbeitung bei komplett abgefütterten Modellen:
Bei komplett abgefütterten Modellen, wie Jacken oder Mänteln, werden die Nahtzugaben gar nicht umstochen oder versäubert.
Sie sind ja beim fertigen Modell unter dem Futter versteckt und werden deshalb nicht strapaziert.
Die Ausnahme sind stark ausfransende Stoffe. Bei ihnen solltest du die Kanten vor dem Zusammennähen trotzdem umstechen, damit sie schon beim Nähen gesichert sind und nicht ausfransen.
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Saumzugaben
Oft wird der Saum doppelt eingeschlagen, dann muss er natürlich nicht umstochen werden.
Wird der Saum offenkantig genäht, dann muss die Kante natürlich vor dem Umbügeln des Saumes umstochen werden.
Zum Schluss noch eine ganz wichtige Sache:
Achte darauf, dass immer die schöne Seite der Umstechnaht zu sehen ist!!!!
Wenn du dir die Umstechnaht genauer anschaust, dann siehst du, dass sie von oben, also auf der Seite, die du beim Nähen siehst, immer schöner und gleichmäßiger aussieht, als auf der Unterseite.
Deshalb solltest du bereits vor dem Umstechen überlegt haben, auf welche Seite du die Naht bügeln oder legen wirst.
Umsteche deshalb immer auf der Seite, die später zu sehen sein wird!!!!
Das war jetzt doch ziemlich viel zu lesen, aber du wirst sehen, dass das Nähen viel einfacher wird, wenn du diese Grundregeln kennst und nicht jedes Mal neu überlegen musst, was du mit den Nahtzugaben machen sollst.
Jetzt freue ich mich sehr, wenn meine Infos und Tipps dir weiterhelfen und wünsche dir ganz viel Näherfolg.
Deine Elsa von www.näh-gern-gut.de
2 Gedanken zu „Nahtzugaben verarbeiten, bügeln und absteppen“
Ich verwende gerne die leichte H180 von Vlieseline. Sie lasst sich gut zuschneiden und aufbugeln und tragt nicht auf. Diese Naht gibt namlich spater die Ausschnittform vor- was jetzt schief genaht ist, ergibt spater leider auch einen schiefen Ausschnitt.
Hallo Marcus, das ist sicher eine gute Einlage, ich kenne die Nummer zwar nicht, aber auch ich sichere meine Ausschnitte und Armlöcher mit einem schmalen Fixierband aus einer leichten Einlageware.
Ich freue mich über Deinen Besuch auf meiner Seite und hoffe, dass sie Dir gefällt.
Viele Grüße, Deine Elsa
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